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Der Weißwurstäquator lässt grüßen

Weiter geht’s bei den Unterschieden zwischen dem in Österreich (sowie eventuell Süddeutschland und der Schweiz) und dem in (Rest-)Deutschland gesprochenen Deutsch. Dass der Weißwurstäquator an einer nicht abschließend definierten Stelle Bayern kreuzt und somit eine Art imaginäre Sprach- und Kulturgrenze darstellt, dürfte bekannt sein.

Kürzlich erlebte ich, wie eine junge deutsche Frau in der Straßenbahn einem älteren Mann ihren Sitzplatz anbot. Der wehrte sich ein bisschen, woraufhin sie antwortete: „Bitte nehmen Sie Platz – ich habe sowieso den ganzen Tag gesessen.”

Der Mann, vom Akzent her klar als Wiener identifizierbar, schaute dankbar, aber auch etwas verwirrt. Warum? Der Satz klang wohl in seinen Ohren – und auch in meinen – ein bisschen eigenartig. Nicht inhaltlich, sondern grammatikalisch, versteht sich.

Eine Österreicherin hätte nämlich Folgendes gesagt: „Bitte nehmen Sie Platz – ich bin sowieso den ganzen Tag gesessen.”

Es geht hier also um die Bildung des Perfekts mit haben oder sein. Das Angenehme dabei: Beide Varianten sind korrekt. Wenig überraschend verzeichnet der Duden (Band 9) die Variante mit sein als hauptsächlich auf Österreich, Süddeutschland und die Schweiz beschränkt. Als Beispiele für Verben, bei denen dieser regionale Unterschied zuschlägt, führt der Duden liegen, stehen und sitzen an. Fallen den werten Leserinnen und Lesern noch andere Verben ein, bei denen es sich genauso verhält?

Wenden wir uns mal von den regionalen Unterschieden ab und einigen Regeln der Perfektbildung zu. Ich war sehr erstaunt zu lesen, dass laut Duden bestimmte Bewegungsverben das Perfekt sowohl mit haben als auch mit sein bilden können. Beispiele:

Sie ist gefahren.
Auch richtig: Sie hat gefahren.

Die zweite Variante klingt für mich sehr ungewohnt. Laut Duden setzt sich hier die Perfektbildung mit sein zunehmend durch, was ich persönlich sehr begrüße. Außerdem führt der Duden aus, dass die Perfektbildung mit haben darauf schließen lässt, dass das Subjekt selbst aktiv war, also hier gefahren ist, während die Pluralbildung mit sein eher an einen Fahrgast denken lässt. Vielleicht sind wir in Österreich primitiv, aber diese Unterscheidung gibt es hierzulande meines Wissens nicht.

Allerdings: Sobald eine Richtungsangabe mit im Spiel ist, ist die Perfektbildung mit haben nicht mehr möglich:

Falsch: Sie hat nach Wien gefahren.
Richtig: Sie ist nach Wien gefahren.

So, nachdem wir uns jetzt vom Speziellen zum Allgemeinen vorgearbeitet haben, sei noch die allgemeine Regel verraten, die Deutsch-Muttersprachlerinnen intuitiv wissen: Bei der überwiegenden Mehrzahl der Verben wird das Perfekt mit haben gebildet.

In diesem Sinne: Ich habe heute den ganzen Tag gearbeitet und habe soeben einen Blog-Beitrag geschrieben.
Jetzt gibt’s Abendessen/Abendbrot … vielleicht mit Weißwurst, ganz ohne Äquator.

Die Spannung und Erwartung war spürbar – oder waren?

Wenden wir uns heute einem Thema zu, das mich und vermutlich auch zahlreiche andere oft ins Grübeln bringt. Wie im Fall oben in der Überschrift stellt sich manchmal die Frage, ob das Verb im Singular oder im Plural stehen soll. In der Grammatik nennt sich das übrigens Kongruenz im Numerus. In den einfachen Fällen ist die Regel kinderleicht: mehrere Subjektteile = Verb im Plural.

Meine Katze und mein Hund teilen sich einen Fressnapf.

Aber die Sonderregelungen haben es in sich! So genannte formelhafte Subjekte (also Subjekte aus mehreren Teilen, die aber als Einheit verstanden werden) haben oft das Verb im Singular (der Plural ist auch möglich, erscheint mir aber weniger üblich):

Angst und Schrecken macht sich breit.

Wenn sich die Subjekte einen Artikel oder ein Attribut teilen, muss das Verb im Singular stehen:

Die Spannung und Erwartung war auf dem Höhepunkt.
Es herrschte viel Kummer und Not.

Wenn die Subjektteile Infinitive ohne begleitende Artikel sind, muss ebenso der Singular stehen:

An ihr Ohr drang lachen und weinen.

Sobald vor solchen Infinitiv-Subjektteilen aber ein Artikel steht, muss das Verb im Plural stehen:

Das Lernen und das Scheitern machten ihn stark.

Weitere Beispiele oder Fragen zu diesem Thema sind natürlich jederzeit willkommen!

Was ist ein vollständiger Satz?

Die Frage im Titel mag ad hoc absurd anmuten. Als vollständiger Satz gilt gemeinhin ein Satz, der ein Subjekt und ein Prädikat hat. In letzter Zeit habe ich einige Fälle gesammelt, bei denen ich mir nicht sicher war, ob es sich um einen vollständigen Satz handelt oder nicht. Die Frage ist besonders dann relevant, wenn es um die Entscheidung zwischen der Groß- und Kleinschreibung geht. Anbei ein paar der schwierigen Fälle, zu denen ich die WAHRIG-Sprachberatung befragt habe:

Eines ist sicher: D/dass das Geld verloren ist.
Allgemeine Information über das Tontaubenschießen: E/eine Sportart, die nur Menschen über 18 ausüben dürfen.

Die Sprachberatung schreibt mir dazu in ihrer rasanten E-Mail-Antwort, dass die Beispiele sowohl als Teilsatz als auch als elliptischer Hauptsatz verstanden werden können und dass somit Wahlfreiheit zwischen der Groß- und Kleinschreibung nach dem Doppelpunkt besteht.

Wie seht ihr das? Habt ihr weitere diesbezügliche Zweifelsfälle parat?

Kongruenz bei Währungen

Heute wollen wir uns wieder mal mit einem schwierigen Thema beschäftigen, nämlich der allseits beliebten Kongruenz (hier Kongruenz im Numerus). Was ist eurer Meinung nach ad hoc korrekt?

10 Euro pro Stunde ist zu wenig.

Oder:

10 Euro pro Stunde sind zu wenig.

In diesem Fall, in dem wir es mit dem Verb sein zu tun haben, sind beide Varianten korrekt. Logischerweise darf bei 1 Euro natürlich nur der Singular stehen.

Wenn aber ein anderes Verb in Zusammenhang mit einer Mengenangabe (größer als 1) und Währung auftaucht, ist standardsprachlich nur der Plural erlaubt, während in der Umgangssprache auch gerne der Singular verwendet wird:

80 Euro reichen [reicht] nicht.
Pro Seite werden [wird] 7,50 Euro in Rechnung gestellt.

Qualität hat seinen Preis?

Hat die Lektüre dieser Überschrift weh getan? Ich hoffe es! Schließlich habe ich dafür bewusst das falsche Possessivpronomen gewählt, nämlich seinen anstelle von ihren.

Sehen wir uns mal die Regel an: Das Possessivpronomen muss im Genus mit dem Bezugswort übereinstimmen. Wenn es also um eine Eigenschaft der Qualität geht, die ja schließlich ein Femininum ist, muss das entsprechende Possessivpronomen auch im Femininum stehen. Also: Qualität hat ihren Preis.

Laut Duden wird gegen diese Regel häufig verstoßen, wie auch ein fleißiger Leser dieses Blogs anmerkte. Als Parade-Falschbeispiele werden im Duden angeführt:

Die Sache hat *seine Richtigkeit. (korrekt: ihre Richtigkeit, da die Sache)
Eine Reise in die Schweiz hat *seine Reize. (korrekt: ihre Reize, da die Reise)

So richtig schön verwirrend ist diese Regel etwa für Französisch-Muttersprachlerinnen, wo das Possessivpronomen sich nicht nach dem Bezugswort, sondern nach dem Objekt richtet:
La qualité a son prix. (Qualität hat ihren Preis. Im Französischen ist das Possessivpronomen das männliche son, weil es bei le prix/der Preis steht, auch wenn das Bezugswort la qualité ein Femininum ist.)